Vor mir liegt der Kalender des ersten Halbjahres 2020. Ich blättere die Seiten März, April und Mai durch- beinahe belustigt. Oder doch mit mehr Trauer?
Was für viele Termine! Kaum ein Tag ohne Eintrag:
Familienfeste, Friseur, Weiterbildungen, Workshops, Geburtstage und unser Ferienseminar auf Lesbos.
Jeder Eintrag wichtig. Unaufschiebbar.
Einträge, die mein Leben zeigen, wie ich es lebe und wie ich es gerne habe, und die auch mich als Menschen kennzeichnen: immer mittendrin, gebrauchtwerden, bedeutsam sein, etwas leisten.
Keinen dieser Termine konnte ich wahrnehmen. Ich wurde ausgebremst.
Was damals blieb, waren Ohnmacht, Trauer, Wut, Verwirrung.
„Vertraue dem Fluß des Lebens“– diesem Thema gehört immer ein ganzer Tag im Ferienseminar Lesbos.
Vertraue dem Fluß des Lebens, wie leicht geht es über die Lippen und wie leicht lässt sich diese Aufforderung leben, wenn der Fluß ruhig, vertraut und tragend mit uns fließt.
Doch was ist, wenn er plötzlich eine scharfe Biegung macht, wenn Stromschnellen und große Steine seinen Weg blockieren und die Strömung schneller und gefährlicher machen?
Ja was ist dann ?
Er ist immer noch der Fluß des Lebens. Und wir können ihm immer noch vertrauen, ja, wir haben gar keine andere Wahl, denn einen anderen Fluß gibt es nicht für uns.
Diese Erkenntnis ist für mich die Wichtigste: Es gibt nur einen Fluß des Lebens und mit dem muss (darf) ich schwimmen, egal, ob mir Richtung und Strömung gerade gefallen.
Ob mir diese Erkenntnis leicht gefallen ist? Nein, ganz und gar nicht.
In der damaligen Situation saß ich verzweifelt über meinen schönen Plänen.
Besonders um Lesbos, unsere wunderschöne Insel, die freundlichen Menschen und unser Seminar weinte ich bittere Tränen. So viel Arbeit, so viel Vorbereitung, so viel Vertrauen der Teilnehmer und so viel Vorfreude umsonst. Umsonst?
Nein, nicht umsonst.
Lesbos wird auch im nächsten Jahr auf uns warten, alle unsere Vorbereitungen haben uns weitergebracht und das Wissen ist auch für das nächste Ferien-Retreat abrufbar.
Nichts war umsonst. All die verpassten Termine zeigen mir, dass Nichts so wichtig ist, dass es nicht verschoben oder aufgehoben werden kann. Sie lehrten mich, dass ICH nicht diese Termine bin, dass mein ICH nicht vom Außen abhängt. Sie lehrten mich Demut gegenüber dem, was gerade ist.
Was für ein Lehrmeister die Zeit doch sein kann.
Natürlich mache ich schon wieder Pläne. Aber ich bin vorsichtiger und bescheidener geworden und denke oft den Satz, den meine Oma immer im Zusammenhang mit Vorhaben und Plänen sagte: „Wenn nichts dazwischen kommt“.
Denn wer weiß schon, wann die nächste Flußbiegung, die nächsten Stromschnellen kommen.
Und dann, ja dann werden wir sehen…